Bericht aus fünf Jahren Forschung
PD Dr. Andreas Boes, Wissenschaftler und Vorstandsmitglied am ISF München, und Dipl.-Pol. Anja Bultemeier, Wissenschaftlerin an der FAU Erlangen-Nürnberg
„Wir befinden uns vor einer entscheidenden Weichenstellung“, erklären die beiden Wissenschaftler. „In den Jahren 2010 und 2011 hat es in den Unternehmen einen enormen Veränderungsschub gegeben. Aber nach unserer Beobachtung ist die Euphorie der Anfangsphase jetzt verflogen.“
Unter anderem als Reaktion auf den von Seiten der Europäischen Union ausgeübten Druck und forciert durch die Quoteninitiative der Deutschen Telekom AG im Jahr 2010, hat das Thema „Frauen und Karriere“ mittlerweile seine Exotenstatus verloren und sich zu einem Thema von strategischer Bedeutung entwickelt. In der Folge des Telekom-Vorstoßes haben sich die Vorstände der Projektpartner auf konkrete Ziele zur Förderung des Frauenanteils im Management verpflichtet – nicht nur als Gebot der Fairness, sondern auch aus einer wirtschaftlichen Notwendigkeit heraus.
„Trotz dieser positiven Ansätze bleibt mit Blick auf die Daten zu konstatieren: Die Wende zu mehr Geschlechtergerechtigkeit in der Wirtschaft ist keineswegs geschafft“, betont Boes mit Blick auf die „bestenfalls moderate Steigerung“ des Anteils von Frauen in Führungspositionen. Dennoch sieht der Soziologe im Moment einen „historischen Möglichkeitsraum“ und damit ein begrenztes Zeitfenster, um Instrumente zur Förderung von Frauenkarrieren ganzheitlich und nachhaltig zu verankern. Begünstigt wird nach seiner Überzeugung diese Entwicklung durch einen tiefgreifenden Umbruchprozess, den die Unternehmen gegenwärtig durchlaufen, und die damit einhergehende Herausbildung eines neuen Karrieremechanismus.
„Dieser Mechanismus bietet neue Chancen, aber auch neue Risiken für die Karriere von Frauen“, erläutert Bultemeier. „Wir müssen Karriere neu denken.“ Erstens sieht die Expertin eine Entwicklung des Karrieremusters weg von der Kaminkarriere hin zur Rotationskarriere, zweitens eine Veränderung in den Entscheidungsmodalitäten: Die Auswahl der Karrierekandidaten bleibt nicht mehr den persönlichen Vorlieben einzelner Führungskräfte überlassen, sondern wird transparent gestaltet und von klar definierten Kriterien abhängig. Drittens wandle sich der Karrieretypus. Galt früher das Prinzip der Seniorität, müssten Karrierekandidaten heute verschiedene Bewährungsproben durchlaufen, offensiv Stellung beziehen, machtvoll agieren und sich öffentlich positionieren, so Bultemeiers Analyse. Viertens verlange Karriere heute die volle zeitliche und vor allem auch „motivationale“ Verfügbarkeit der Beschäftigten.
Diese neuen Mechanismen führen jedoch nicht automatisch zu mehr Chancengleichheit, so die Politologin. Dass Frauen Karriere wollen, steht für sie allerdings außer Frage. „Sie mögen aufgrund ihrer Verantwortung für die Sorgearbeit auf Karriere verzichten. Doch ist dies nicht ihrem fehlenden Willen geschuldet, sondern den fehlenden Möglichkeiten.“ Denn bei der Umsetzung ihrer Karrierebestrebungen in die Praxis stoßen Frauen an Barrieren. So verlangt Karriere heute eine große räumliche Flexibilität bis hin zu Stationen im Ausland. Auch die Versachlichung der Auswahlprozesse birgt Fallen, z.B. wenn sie erst zu spät einsetzt oder nicht auf gendersensiblen Kriterien beruht. Der neue Karrieretypus schließlich bleibt den Frauen fremd, sie erleben machtvolles und öffentliches Agieren als zu aggressiv und inszeniert. Das entscheidende Hindernis aber liegt nach Bultemeiers Überzeugung in der stetigen Zunahme der Verfügbarkeitserwartungen, die vor dem Hintergrund einer „doppelten Vergesellschaftung“ (in Familie und Beruf) für Frauen zum Karrierekiller werden.
Aufgrund dieser Analyse plädieren Bultemeier und Boes dafür, die derzeitige Umbruchsituation in den Unternehmen zu nutzen, um die damit verbundenen Chancen für Frauen zu steigern und die Risiken zu minimieren: „Aus dem bislang ungeplanten Umbruchprozess muss ein bewusster Modernisierungsprozess werden.“